Hier finden Sie Berichte zu Tagungen, die wir zum Themenfeld Sterben, Tod und Trauer organisiert haben.
Bericht zur Tagung
WISSENSKULTUREN DES TODES. Zur Aktualität der Thanatosoziologie
TU Berlin, 24./25. März 2022
Am 24. und 25. März 2022 veranstaltete der Arbeitskreis Thanatologie der DGS-Sektion Wissenssoziologie eine Online-Tagung zum Thema »Wissenskulturen des Todes. Zur Aktualität der Thanatosoziologie«. In seiner Begrüßung ordnete Thorsten Benkel (Passau) das Tagungsthema auch in den aktuellen Rahmen des nun wiederkehrenden »vormodernen Sterbens« im Kontext von Krieg und Pandemie ein. Melanie Pierburg (Hildesheim) und Matthias Meitzler (Passau) stellten den Arbeitskreis Thanatologie und das neu begründete Jahrbuch für Tod und Gesellschaft (erschienen im März 2022) vor. Der Arbeitskreis hat es sich zum Ziel gesetzt, sozialwissenschaftlichen Forschungen empirischer und theoretischer Natur zu den Themenfeldern Sterben, Tod und Trauer eine Plattform zu geben und den interdisziplinären Austausch zu fördern. Auf dieser Basis konnten bereits einige Tagungen und Workshops sowie diverse Publikationen erarbeitet werden.
Eröffnet wurde die Tagung von Hubert Knoblauch (Berlin), der mit seinem Vortrag zur »Refiguration des Todes« verschiedene Spannungsverhältnisse und Ambivalenzen von gesellschaftlichen Todesnarrativen einkreiste. Entlang der Beispiele der Todesnäheerfahrung, der klinischen Sektion, den sich wandelnden Todeskriterien sowie der Organspende ließe sich vor allem die Nicht-Eindeutigkeit und Unbeständigkeit (im Sinne einer beständigen Transformation) des Todes aufzeigen. In der Gegenüberstellung von modernem und postmodernem Tod liege deswegen gerade keine Entwicklungsbeschreibung, sondern ein beständiges Oszillationsverhältnis, welches den Tod dynamisch in den sozialen Wandel einbette.
Anna Bauer (München) beleuchtete in ihrem Vortrag die räumlichen und zeitlichen Aspekte des »guten Sterbens« im Kontext der Palliativversorgung in den eigenen vier Wänden. Das Narrativ des guten Sterbens sei heutzutage nicht mehr an abgeschlossene Stationen gebunden, sondern zunehmend ausdifferenziert und räumlich ausgeweitet, weshalb sich die Palliativpflege zu Hause als eigene Praxisform beschreiben lasse. Entlang von drei analytischen Praxisgegenwarten wurde gezeigt, wie sich organisationale Anforderungen auf der einen und Patientenwünsche auf der anderen Seite im Wechselspiel von Gegenwart und Abwesenheit vereinen lassen.
Daniel Schönefeld (Neubrandenburg) widmete sich aus konversationsanalytischer Perspektive dem Sterben als einem interaktiven und kommunikativen Herstellungsprozess. Als theoretischer Ausgangspunkt diente hierfür die Ethnomethodologie nach Harold Garfinkel, mittels derer der Produktionscharakter des Sozialen und hier insbesondere des Sterbens fokussiert wurde. Anhand von audio-visuellen Aufzeichnungen in Krankenhäusern und Hospizen wurden einige Analysestrategien der Konversationsanalyse dargestellt und der Beitrag zur vergleichenden thanatosoziologischen Theoriebildung aufgezeigt.
Am Beispiel der künstlichen Ernährung im stationären Hospiz referierte Lilian Coates (Frankfurt am Main) über professionelle Sterbeexpertise und die Orientierung am wissenden Körper. Auf der Grundlage von Beobachtungsprotokollen wurden die teilweise konfligierenden Wissenskulturen der professionellen Hospizmitarbeitenden und der betroffenen Familien dargestellt. Insbesondere medizinische Deutungen zum sterbenden Körper und seinen Reaktionen können dabei den laienhaften Umgang mit einem geliebten Menschen irritieren. Das Ideal des bewussten und natürlichen Sterbens im Hospiz könne in seinen normativen Implikationen in ein extremes Nicht-Heilungs-Narrativ umschlagen, welches im Extremfall Spannungen und Pflichten im Sinne einer leerlaufenden Gesinnungsethik begründen könne.
Stephanie Stadelbacher (Augsburg) thematisierte das Sterben zu Hause als einen Indikator für Wandlungsprozesse des Privaten. Im Zuge fortschreitender Individualisierung lasse sich die Programmatik des »guten Sterbens« in der Moderne unter dem Gesichtspunkt der Einbeziehung Angehöriger sowie von individuellen lebensweltlichen Bezügen zunehmend auch im Privaten verorten. Hierfür sei allerdings eine Neuausrichtung des Alltags und der Spielregeln des Privaten erforderlich. Im Umgang mit dem »Sterben-Machen« zu Hause gelte es auch, mit der Kolonialisierung des Privaten und steigender Entfremdungserfahrungen in der ursprünglich vertrauten Raum-Ding-Ordnung umzugehen.
Angelehnt an die theoretischen Konzeptionen von Georg Simmel, Erving Goffman und Norbert Elias fokussierte Matthias Hoffmann (Saarbrücken) das moderne Individuum in der ausgelagerten Phase des Sterbens. In der Vorausschau auf das Ende des eigenen Lebens sei dabei weniger der Tod an sich, sondern vor allem die Angst vor einem langwierigen (sozialen) Sterbeprozess und einem damit einhergehenden Verlust über die eigenen Körperfunktionen dominant. Aufbauend auf Simmels »Exkurs über die Sinne« und Goffmans Begriff des »Territoriums des Selbst« wurde diese Angst als Angst vor dem Verlust des zivilisatorischen Niveaus nach Norbert Elias gerahmt. Die internalisierten Scham- und Peinlichkeitsschwellen lassen die körperlichen Ausfälle als Krisen des eigenen Seelenhaushalts und der konstruierten Identität wirken, was eine Neufassung des Begriffs des sozialen Sterbens evoziere.
Leonie Schmickler (Passau) zeigte in ihrem Vortrag Probleme und Perspektiven der geänderten Rechtsverhältnisse der Sterbehilfe auf. Das vom Bundesverfassungsgericht proklamierte »Recht auf selbstbestimmtes Sterben« im Sinne des allgemeinen Persönlichkeitsrechts habe zwar das in § 217 StGB normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung aufgehoben, allerdings stünde eine Neuregelung durch den Gesetzgeber noch aus. Die Aufgabe des Gesetzgebers, die Selbstbestimmung der Sterbenden in eine praxisverträgliche Rechtsnorm zu überführen, sei nach wie vor durch moralische Argumentationspositionen belastet. Die Irritation, die der (assistierte) Suizid noch immer hervorrufe, entlarve eine Rhetorik der Individualisierung, die an den Durchsetzungsbedingungen politischer Standpunkte scheitere.
Zum Abschluss des ersten Konferenztages referierte Thorsten Benkel (Passau) zur Epistemologie thanatologischer Sozialforschung. Der Tod als Forschungsgegenstand stehe immerzu außerhalb der Erfahrbarkeit und erlaube demnach streng genommen nur außerempirische Aussagen. Dies evoziere in besonderer Weise die Frage nach dem Erkenntnisinteresse thanatosoziologischer Forschung, welches über streng medizinische Erkenntnisse oder bloße lebensweltliche Banalitäten hinausgehen müsse. Gerade die fehlende intersubjektive Nachvollziehbarkeit lenke den Blick dabei auf die verschiedenen kulturellen Verfasstheiten der eigenen »Todesvorbilder« und auf die Grenzen des Wissbaren als einem Indikator für Kulturbedeutsamkeit.
Den zweiten Tag der Veranstaltung eröffnete Debora Niermann (Zürich) mit einem Vortrag zum Thema »Childing and Adulting in Dying«. Niermann skizzierte ihre eigene geplante Feldforschung, lebenslimitiert erkrankte Kinder zu begleiten und hierbei die Kindheitsperspektive in den Mittelpunkt zu stellen. Neben der Frage, wie Kindheit unter Krankheitsbedingungen erlebt werde, solle es insbesondere um die soziologische Re-Konstruktion der Pole Kindheit/Erwachsensein und Krankheit/Gesundheit gehen. Im Hinblick auf die Vermittlung von Wissensbeständen im Sterbeprozess und die Dynamiken, die in dieser Situation mit Kindern entstünden, sei nicht von »unfertigen Kindern« im Vergleich zu »fertigen Erwachsenen« auszugehen, sondern vielmehr von einem vielschichtigen »social becoming«. Sterbewissen sei nicht altersabhängig, sondern erfahrungsgebunden und so läge ein großes Potenzial in den umgekehrten Generationsverhältnissen und den vorherrschenden generationalen Skripten.
Patrik Budenz (Berlin) fokussierte mit umfangreichem Bildmaterial aus verschiedenen fotografischen Projekten den Tod und die Leiche als ästhetisches Element. In seiner neuesten Arbeit zu Leichenfundorten wurde außerdem die »Umwelt des Todes« aus dem Blickwinkel der Kamera in Szene gesetzt. Im offenen Gespräch mit Thorsten Benkel wurden entlang dieser Eindrücke verschiedene Fragen zu Nähe und Distanz, Inszenierung und Dokumentation erörtert und der Tod als visuelle und fotografische Herausforderung entwickelt.
In seinem Vortrag »Darf ich das zeigen? Die Leiche als visuelle Herausforderung« widmete sich Matthias Meitzler (Passau) dem toten Körper als gesellschaftlich ausgeblendeter Repräsentanz des Todes. Entgegen der zunehmenden Sichtbarkeit fingierter Leichen in Fernsehserien und Filmen sei das Abbilden echter Leichen nach wie vor problem- und tabubehaftet. Vor dem Hintergrund eigener ethnografischer Untersuchungen im Feld der Obduktion stelle sich die Frage nach den legitimen (und notwendigen) Einblicken in menschliche Überbleibsel auch im Kontext des Wissenschaftsfeldes. Der Bruch mit kulturellen Sehgewohnheiten sei beispielsweise in medizinischen Lehrbüchern sogar erwünscht, in der Soziologie allerdings immer noch begründungsbedürftig, weshalb sich auch ein Vergleich verschiedener soziologischer Subdisziplinen hinsichtlich visueller Tabus anbiete.
Zum Abschluss der Tagung befasste sich Ekkehard Coenen (Weimar) aus gewaltsoziologischer Sicht mit der Mediatisierung des Tötens in der Online-Video-Kommunikation. In einem ersten Schritt wurden die unterschiedlichen Beeinflussungsdimensionen der Mediatisierung auf Tötungshandeln dargestellt. Sodann wurde das Tötungsvideo als »Grenzobjekt« in seiner Diskurseinbettung untersucht, wobei Coenen mit der moralischen, der politischen und der thanatologischen Arena drei Diskursebenen exemplarisch vorstellte.
Die Tagung bot spannende Einblicke in die vielfältigen Forschungsthemen und -ansätze zum Lebensende und die damit verbundenen institutionellen und rituellen Rahmungen. Im Kaleidoskop der Wissenskulturen lassen sich verschiedene kulturelle, zeithistorische und diskursrelative Mosaiksteine des Todes aufeinander beziehen und betrachten, weshalb sich die dargebotene methodische und theoretische Vielfalt auch für zukünftige Forschungen gewinnbringend einsetzen lässt. Die Ergebnisse der Tagung sollen in einem Tagungsband in der Reihe »Thanatologische Studien« des Verlags Rombach Wissenschaft erscheinen.
von Christoph Nienhaus und Kerstin Leyendecker
Bericht zur Tagung
ERKUNDUNGEN DES UNGEWOHNTEN. Empirisches Forschen in außergewöhnlichen Kontexten
Universität Passau, 11./12. Juni 2021
Am 11. und 12. Juni 2021 fand die an der Universität Passau organisierte sozialwissenschaftliche (Online-)Fachtagung »Erkundungen des Ungewohnten« statt. Thematisch rückten die Organisatoren Thorsten Benkel und Matthias Meitzler verschiedene Dimensionen der empirischen Befragung und theoretischen Reflexionen des sonst Unbefragten in den Fokus.
Eröffnet wurde die Tagung durch einen Vortrag von Thorsten Benkel (Passau) über die Erforschung des Verborgenen: Zum einen werde durch Wissen und dessen Generierung auch immer das (Noch-)Nicht-Gewusste bzw. potenziell Wissbare vergegenwärtigt, und der serendipity effect zeige, dass auch das Feld ungefragt Antworten liefert, die das Fremdverstehen herausfordern können. Zum anderen existiere das Problem des Übergangs von der wissenschaftlichen Sinnwelt in die des Alltags. Matthias Meitzler (Passau) veranschaulichte, was ungewöhnlich erscheinende Forschungsgegenstände sowie Forschungspraktiken im Feld bedeuten. Die Enttäuschung feldexterner Normalitätserwartungen könne nicht nur bei den Forschenden, sondern auch bei den Rezipient*innen von Forschungsergebnissen für Irritation sorgen.
Michael Ernst-Heidenreich (Koblenz) stellte seine Forschungsperspektive situativer Nicht-Alltäglichkeit für die Erforschung von aus Irritationen hervorgehenden Dynamiken vor. Alltag sei von der situativen Nichtalltäglichkeit zu unterscheiden, weil letztere räumlich, sozial und zeitlich verdichtete und auf das Hier und Jetzt fokussierte Situationen bestimme, die den Nährboden neuer Beziehungen, Formationen und intersubjektiver Bedeutungszumessungen bilde. Melanie Pierburg (Hildesheim) ging in ihrem Vortrag dem ungewohnten Selbst im wissenschaftlichen Kontext auf den Grund. Zunächst bestimmte sie Alltag sozialphänomenologisch als Modus der selbstverständlichen Weltauslegung und das Ungewohnte als eine gescheiterte Auslegung in ein lebensweltliches Passungsverhältnis. Am Beispiel der ehrenamtlichen Sterbebegleitung veranschaulichte sie, wie das Ungewohnte im Rahmen einer autoethnografischen Vignette zum Vorschein kommen kann. Christoph Nienhaus (Bonn) legte dar, dass eine rechtssoziologische Perspektive mehr als die Unterscheidung zwischen erlaubt/nicht erlaubt gewährleiste und verschiedene soziale Ordnungen einzelner, ungewohnter Felder einer pluralisierten Gesellschaft in den Blick nehmen könne. Um die Entstehung und Aufrechterhaltung sozialer Normen, wie ihrer Abweichung zu erklären, müsse Recht als Kultur verstanden werden. Am Beispiel der COVID-19 Pandemie schilderten Julia Huber und Nadine Müller (beide Jena), wie diese ein das Ungewohnte antizipierende und simulierende Forschungsvorhaben verhinderte und wie sich daraus neue Fragen zum Verhältnis von antizipierten und realen Herausforderungen forschungspraktisch einstellen.
In der abendlichen Keynote entfaltete Manfred Prisching (Graz) am Beispiel von drei Phänomenen einige Thesen zur Relation von Alltag und Irritation. Erstens offenbarte die Reflexion über den Alltag in der Schlussepoche der Habsburger Monarchie, dass ein individuell gewöhnlicher Alltag verschieden zu anderen Alltagen unterschiedlicher Milieus desselben Imperiums sein kann und untereinander nicht immer Anschlussfähigkeit besteht. Zweitens konkretisierten autoethnografische Reflexionen über das einwöchige Festsitzen in einem Hotel in New Orleans während des Hurricans Catharina im Jahr 2005 das Ausmaß der Verunsicherungen durch die Darstellung der gestörten, ehemals normalen Erwartungsbildung. Drittens ließ sich aus der durch die COVID-19 Pandemie irritierten Gewohnheiten ab 2020 ein Gradualismus der Unterscheidung zwischen gewohnt und ungewohnt ableiten, der sich in der (De-)Legitimation von Freiheitsbeschränkungen äußere.
Den zweiten Tag eröffnete Ingmar Mundt (Passau) mit einem Blick auf die unbekannte Facette der Zukunftskonstruktion. Gegenwärtige Zukünfte seien zwar hinsichtlich ihrer Möglichkeiten offen, aber die zukünftige Gegenwart sei durch vergangene und gegenwärtige Entscheidungen vorstrukturiert. Frank-Holger Acker (Hannover) präsentierte die Analyse eines ungeplanten autoethnographischen Krisenexperiments. Als Polizist und promovierter Soziologe wollte er durch die Realisierung eines Lehrauftrags am wissenschaftlichen Diskurs teilnehmen. Dem stand jedoch ein vom ASTA eingelegtes Veto gegenüber. Durch eine Differenzierung in Massenkommunikation, Hinter- und Vorderbühne rekonstruierte er den Kommunikationsverlauf mit Blick auf Ereignisse, Inhalt, Zeitpunkt, involvierte Akteure und die Relationen dieser Aspekte zueinander.
Der Vortrag von Julia Sellig (Passau) gab Einblicke in die Kopplung zwischen selbstlernender Medizintechnologie und Diabetiker*innen. Die Aufnahme der Körperdaten von dem selbstlernenden System stelle eine einseitige Einleibung dar, die zu einer wechselseitigen Einleibung werde, wenn und weil sie den Nutzenden eine leibliche Gewohnheit biete. Ekkehard Coenen (Weimar) diskutierte seine Untersuchungen zu im Darknet veröffentlichten Gewaltvideos und zeigte, dass die Kommunikation über Gewaltvideos von unterschiedlichen feldinternen wie -externen Akteuren durch eine Verrätselung und Akzentuierung der Abweichung gekennzeichnet ist.
Mit dem Phänomen der Abweichung war auch Christian Thiel (Augsburg) in seiner Forschung über betrügerische Praktiken konfrontiert. Soziolog*innen seien in diesem Feld mit der Herausforderung konfrontiert, zwischen strategisch gesetzter Wirklichkeit und nicht an intersubjektive Deutungen anschließbare subjektive Wirklichkeit zu unterscheiden. Leonie Schmickler (Passau) thematisierte den weiblichen Intimbereich als Austragungsort gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Die Unwissenheit über die Beschaffenheit des Vaginalkränzchens, patriarchalische Gesellschaftsstrukturen und die medizinische Hymen(re)konstruktion hielten den Mythos vom Jungfernhäutchen indes aufrecht. In diesem Sinne liege das Problem nicht im Schoß der Frau, sondern in den gesellschaftlich vermittelten Selbst- und Weltverhältnissen.
Teresa Geisler (Berlin) beleuchtete in ihrem Vortrag, wie und warum sich das Phänomen ›Chemsex‹ von anderen Formen des Geschlechtsverkehrs unter Substanzgebrauch unterscheidet. Ausschlaggebend hierfür seien die Dimensionen Vulnerabilität, Risiko, Lust, Technologie und Versagen der Autoritäten. Chemsex könne als Versuch einer (schwulen) Kollektivierung von intimen Erfahrungen unter neoliberalen Bedingungen verstanden werden. Den Tagungsabschluss bildete der Vortrag von Andreas Ziemann (Weimar), der die ethnografische Arbeit zur Steuerfahndung im Bordell vorstellte. Anhand von Beispielen aus dem Feld legte er dar, inwiefern Interaktionen mit feldexternen Akteuren vorstrukturiert sind und die beobachtete Berufspraxis einer ständigen Selbstdisziplinierung unterliegt.
Die Tagung ließ eine große Brandbreite ungewöhnlicher Forschungssituationen und -gegenstände erkennen. Unfreiwillige Autoethnografien krisenhafter Situationen wurden ebenso anschaulich dargestellt, wie die forschende Störung der Normalitätskonzepte des Feldes. In diesem Sinne wurden sowohl Einblicke in als ungewöhnlich geltende Phänomene geboten als auch reflektiert, welche Herausforderungen sich daraus für die (ethnografische) Forschungspraxis und die Forschenden ergeben.
von Isabelle Bosbach
Bericht zur Tagung
STERBLICHKEIT UND ERINNERUNG. Soziale Gedächtnisse am Lebensende
Universität Passau, 11./12. März 2021
Am 11. und 12. März 2021 veranstalteten Thorsten Benkel und Matthias Meitzler (beide Passau) gemeinsam mit Oliver Dimbath (Koblenz) die Online-Tagung »Sterblichkeit und Erinnerung«, welche zugleich als Jahrestagung des Arbeitskreises »Gedächtnis – Erinnern – Vergessen« der DGS-Sektion Wissenssoziologie fungierte.
Nach der Begrüßung durch die Veranstalter hielt Thorsten Benkel den Eröffnungsvrtrag über Gedächtnispolitik. Institutionen und Rituale des (Nicht-)Erinnerns. Zunächst thematisierte er das Vergessen, welches kein bewusster Akt sei, allerdings oftmals soziale Sanktionen nach sich ziehe. Die Relevanz des individuellen Gedächtnisses zeige, dass Erinnerung mit persönlichen Erfahrungen verknüpft ist. Auch aktives Vergessen, zu dem u.a. die Verdrängung des eigenen Sterbens und das geliebter Mitmenschen gehöre, sei eine soziale Facette von Erinnerung. Ist ein Mensch gestorben, so kann er durch ständiges Erinnern, also durch Gedächtnisrepräsentation, weiterhin sozial präsent bleiben. Auf diese Weise sind die Toten für eine Weile noch im Zugriff der Lebenden.
Im ersten Panel »Abschließen als Vorbereitung des Sterbens« thematisierte Sarah Peuten (Augsburg) in ihrem Vortrag Würdezentrierte Therapie. Über gelingendes Erinnern am Lebensende die hospizlich-palliativen Ideale des Sterbens. Die Individualisierung wirke sich hier auch auf das Sterben aus. Je mehr Gestaltungsoptionen sich diesbezüglich ergeben, desto weniger werde Sterben schicksalhaft betrachtet und stattdessen symptomkontrolliert „gemacht“. Es sei folglich kein Schicksal, sondern ein »Mach-sal«, bei dem der Patient zum Co-Produzenten seines eigenen Ablebens werde. Im Rahmen von Interviews können Sterbende dazu gebracht werden, sich zu erinnern, wodurch ein wohlwollender Lebensrückblick entsteht. Durch (zu) enge Führungen gehen differente Lebensstile, Wertvorstellungen und Bedeutsamkeiten jedoch verloren, so Peuten. Die würdezentrierte Therapie fungiere als erinnerungsbezogene Selbsttechnik. Sie befriede, harmonisiere, selektiere und helfe dem sich Selbst-Erinnern und dem Erinnert-Werden. Dies sei eine spezifische soziale Gedächtnisordnung.
Melanie Pierburg (Hildesheim) beschäftigte sich in ihrem Vortrag ,Auch ihr erinnert euch.‘ Biografische Repräsentationen in der Hospizausbildung mit Hospizvorbereitungskursen für ehrenamtlich Beschäftigte und der Frage, wie Erinnerung in diesem Kontext als biografische Ressource genutzt wird. Dabei erörterte sie, inwiefern Erinnern und Erinnerungen den Hospizkurs durchziehen und sozial konstituiert sind. Laut Pierburg dienen viele Übungen dazu, eine affirmative Haltung in Sterbesituationen vorzubereiten. Das Erinnern vollziehe sich damit in einer didaktisch gerahmten Kommunikationssituation, welche das biografische Memorieren zum Vermittlungsgegenstand erhebe, der auf die sterbebezogene Interaktion der Begleitung gerichtet sei.
Das zweite Panel war dem Themenfeld »Bestattungs- und Sepulkralkultur« gewidmet und startete mit Matthias Meitzlers Vortrag Der Friedhof als Gedächtnisraum. Am Beispiel zeitgenössischer Friedhöfe thematisierte Meitzler den Zusammenhang von postmortaler Individualisierung, Sterblichkeit und Erinnerung. Friedhöfe, so Meitzler, geben dem sozialen Gedächtnis einen begehbaren Raum, sie sind somit nicht allein Lagerstätten für tote Körper, sondern erfüllen noch weitere Funktionen, u.a. als Orte des Abschieds, ritueller Handlungen sowie der parasozialen Zuwendung zu den Verstorbenen. Unter Berufung auf empirische Forschungsarbeit (mit über 150 qualitative Interviews im Bestattungskontext und mehr als 1.200 analysierten Friedhöfen) veranschaulichte Meitzler, dass der Friedhof immer mehr zum Schauplatz von Lebensreferenzen werde und sprach in diesem Zusammenhang von postexistenzieller Existenzbastelei und postmortaler Imagekonstruktion. Gerade unter neueren Gräbern fänden sich zunehmend Verweise auf Freizeitkontexte, auf populärkulturelle Inhalte oder Alltagsartefakte, die mit den Verstorbenen assoziiert werden. Ferner ging Meitzler auf das von Thorsten Benkel entwickelte Konzept der zwei Körper der Toten ein: Während der erste Körper für die Leiche stehe, die aus dem sozialen Umfeld ausgegliedert werde, um letztlich im Grab zu verschwinden, sei der zweite Körper als Repräsentant der lebendigen Vergangenheit der Verstorbenen für die (Erinnerungen der) Hinterbliebenen weiterhin sozial relevant.
Leonie Schmickler thematisierte in ihrem Vortrag Materielle (Un-)Vergänglichkeit. Die symbolische Umdeutung von Artefakten im Trauerprozess den sogenannten ›Erinnerungsdiamanten‹, welcher aus der Kremationsasche von Verstorbenen hergestellt wird. Aufgrund der in Deutschland geltenden Friedhofspflicht erfolgt die Produktion in der Schweiz, jedoch sind viele deutsche Bürger Kunden des Anbieters. Durch telefonische Interviews und Feldaufenthalte vor Ort wurde deutlich, dass die Diamanten für viele Hinterbliebene nicht nur ein Schmuckstück darstellen, sondern auch eine Art transformierte Fortexistenz der verstorbenen Person bedeuten. Diese bleibe über den Diamanten adressier- und berührbar und erhalte zugleich einen Symbolwert, der nicht lediglich im materiellen Wert des Edelsteins aufgehe. Insofern verwundere es nicht, wenn der Verlust des Aschediamanten mit einem erneuten Verlust des Verstorbenen gleichgesetzt werde.
Das dritte Panel zu »Formen des Gedenkens« wurde von Jan Ferdinand (Berlin) mit seinem Vortrag ›Die Toten leben in uns, wir mit den Toten weiter‹. Zum Übergang vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis bei Jan Assmann eingeleitet. Im Fokus stand die Charakterisierung von Jan Assmanns Denkweise und seines Begriffs des kulturellen Gedächtnisses. Assmann mache geltend, so Ferdinand, dass der Rekonstruktionscharakter von Erinnerungen nicht alles sein könne: Auschwitz beispielsweise sei schwer zu erinnern, aber unmöglich zu vergessen. Ferdinand verband Assmann ferner mit der Theorie von Maurice Halbwachs und thematisierte das mythische Element in Assmanns Ausführungen, um danach eine Charakterisierung des Assmann‘schen kulturellen Gedächtnisses als religiöses Gedächtnis vorzulegen. Die Gesellschaft sei, so Ferdinand, nichts anderes als ein Gedächtnis, das die längste Zeit der Menschheitsgeschichte genau genommen ein religiöses Gedächtnis war.
In ihrem Vortrag Militärisches Totengedenken. Gedächtnissoziologische Überlegungen am Beispiel der Bundeswehr befasste sich Nina Leonhard (Potsdam) mit dem zeitgenössischen Erinnern an tote Soldaten. Durch den Wandel der politischen Kultur des Krieges in Deutschland werde eine neue Art des Erinnerns an deutsche Soldaten praktiziert, die bei Erfüllung ihrer Dienstpflicht ums Leben gekommen sind. Neue Formen des Gedenkens (wie der ›Wald der Erinnerung‹) dienen hierfür als Beispiele. Das modernisierte Erinnern brauche, so Leonhard, gebe eine Antwort auf die Frage: Wofür haben diese Soldaten ihr Leben gelassen, wofür haben sie ihr Opfer geleistet? Zum einen werde die funktionale Differenzierung ersichtlich, zum anderen entwickele sich eine Privatisierung des Soldatentums. Als Problem stellte Leonhard fest, dass das Gedenken an den politischen Auftrag in die Erinnerung an eine militärische Funktion umgemünzt werde, welche aber in politischer Hinsicht nur bedingt legitimierbar ist.
Die daran anschließende Präsentation von Ekkehard Coenen (Weimar) zu Infrastrukturen des Erinnerns und Mitsein mit den Getöteten. Wissenssoziologische Beobachtungen am Beispiel der Gedenkstätte Buchenwald drehte sich um das gewaltsame Verkürzen der Lebenszeit von KZ-Häftlingen. Das Mitsein mit den Getöteten werde durch die verschiedenen Objektivierungen des Tötens, wie z.B. Genickschussanlagen und Leichenkellern, konstituiert und sei im hohen Maße an ein Gewaltwissen und die damit zusammenhängenden kommunikativen Handlungen verknüpft. Heute können Interessensgruppen durch Eingriffe in die Infrastrukturen der Gedenkstätte auch das Mitsein mit den Opfern prägen. Infrastrukturen bilden somit die Basis, durch die das kommunikative Gedächtnis geprägt werden könne.
Im letzten Vortrag des dritten Panels präsentierte Carsten Heinze (Koblenz) Das Spannungsverhältnis zwischen Orten des Todes und Überlebend(den) in dokumentarischen Filmen. Bürgerkrieg und Genozide im 20. Jahrhundert. Er beschrieb den dokumentarischen Film als Erinnerungsmedium, welcher in der Lage sei, Zeitabläufe bewahren und festhalten zu können. Dokumentarische Filme seien gekennzeichnet von Aufklärung, Wissensvermittlung und eine Nicht-Fiktionalität des Materials. Als Erinnerungsmedium dienen sie dank Aufzeichnung und Speicherung und durch Interviews mit Zeitzeugen. Der dokumentarische Film, so Heinze, fungiere mithin als Spiegel von Ereignissen, die wir in der Realität aufgrund ihrer Grausamkeit nicht anschauen können bzw. wollen. Die Frage sei somit zum einen, wie man mit Bildern des Todes/des Sterbens in Dokumentarfilmen umgehen solle und zum anderen, welche Bilder auf welche Weise gezeigt werden.
Den zweiten Veranstaltungstag begann Nico Wettmann (Gießen) mit der Eröffnung des vierten Panels „Anfang und kein Ende“ und seiner Präsentation zu Erinnerung, Phantasmen, Vergessen. Fehl- und Totgeburten aus zeitsoziologischer Perspektive. Durch die Visualisierung des Ungeborenen in der Ultraschallaufnahme werde der Status der gegenwärtigen Identität gefestigt. Diese Sichtbarkeit führe, so Wettmann, zu einer antizipativen Aufladung der Schwangerschaft. Das Ungeborene sei diesseits von Sein und Werden. Als zeitliche Bezugsweisen nennt Wettmann die elterliche Imagination, Passivitäten von Schwangerschaften, Vergegenwärtigung des Ungeborenen, Kultivierung offener Zukünfte und Brüche in Form von Schwangerschaftsverlusten. Die Wahrnehmung eines solchen Verlustes knüpfe auf spezifische Weise an die Elternbiografie an und führe diese fort.
Oliver Dimbath beschäftigte sich in seinem Vortrag zur Unsterblichkeit mit Formen des kollektiven und außeralltäglichen Erinnerns an Personen und mit dem Streben, im Angedenken der Weiterlebenden zu überdauern. Die Unsterblichkeit der Seele sei insofern hochrelevant, als man sie als Erinnerungsmedium begreifen könne. Der Unsterblichkeitsglaube habe zwei Wurzeln: Erstens den auf Traum-Erinnerungen begründeten Aberglauben an ein Weiterleben der Seele und zweitens die jüngere Annahme der Individualisierung, welche Einzelne dazu ermutigt, Beiträge zur Entwicklung der Gesellschaft zu leisten – mit dem Lohn des Erinnert-Werdens. Die Unsterblichkeit im Jenseits sei hingegen als religiöse Beruhigungspille zu sehen. Unsterblichkeit biete des Weiteren, nämlich durch Vererbung, eine schwach individualisierte Hoffnung, der Betroffene könne das Gedächtnis der Nachwelt mitgestalten, in dem er Spuren hinterlässt.
Im finalen Panel (»Auflösen als Bewältigung des Nachlasses«) hielt Christoph Nienhaus (Bonn) einen Vortrag zu Erbschaft als Erinnerung. Rechtsnachfolge und Testierfreiheit im Spiegel der soziologischen Theorie. Die Reflexion der eigenen Sterblichkeit und das damit verbundene Verpflichtungsgefühl, das Erbe angemessen zu regeln, stehe in Verbindung mit dem Wunsch nach der Kongruenz von Selbst- und Fremdbild. Weil es Erbschaft und daran gekoppelte Erinnerungen nicht losgelöst vom Recht gebe, würde der Tod im Spiegel der Rechtssoziologie sowohl zu einem Problem der Sterbenden wie auch der Erbenden.
Die Tagung endete mit einer Abschlussdiskussion, an der rege teilgenommen wurde. Die Ergebnisse der Veranstaltung sollen in einem Sammelband veröffentlicht werden.
von Alina Stichling
Bericht zur Tagung
ERINNERUNG ALS OBJEKT
Berlin, Januar 2020
Welche Rolle spielen ›Erinnerungsdiamanten‹ im Trauerprozess von Hinterbliebenen, die sich dazu entschieden haben, die Kremationsasche ihres verstorbenen Angehörigen in Form einer kristallinen Preziose aufzubewahren? – Das interdisziplinäre Team aus Thorsten Benkel, Thomas Klie und Matthias Meitzler sind dieser Frage in einem Forschungsprojekt nachgegangen und haben nun ihre Einsichten in einem Buch veröffentlicht: Der Glanz des Lebens. Aschediamant und Erinnerungskörper (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019; 240 Seiten, 20,- EUR). Am 31. Januar 2020 im wurden die Forschungsergebnisse einem sachverständigen Fachpublikum im Georgensaal des Evangelischen Kirchenforums in Berlin präsentiert.
Thorsten Benkel ging dabei zu Beginn der Frage nach, wie sich das Bild des toten Körpers durch die neuen Entwicklungen in der Bestattungskultur verändert hat, und auf gesellschaftlichen Umbrüche dies zurückgeht. Matthias Meitzler thematisierte die zentralen Forschungsfragen des Projektes und stellte die methodischen Herangehensweisen anhand der Dynamik von Befragungssituationen im Trauerkontext vor. Die Projektmitarbeiterin Leonie Schmickler trug anonymisierte Passagen aus dem Interviewmaterial vor. Und Thomas Klie fasste die wichtigsten Erkenntnisse aus der Studie zusammen: die Besonderheit des Materials (Diamant), die vorwiegend weibliche Kundschaft und ihr Bestreben, den Edelstein möglichst Tag und Nacht bei sich zu haben, die hohe Produktzufriedenheit der Diamantbesitzenden und ihr großes Selbstbewusstsein, die postmortalen Belange mit dieser sehr außergewöhnlichen Bestattungsform selbst in die Hand zu nehmen.
Die anschließende Diskussion der anwesenden Fachvertreter berührte dann schwerpunktmäßig vor allem die immer noch sehr ›paternalistischen‹ Bestattungsgesetze der Länder, die mit der aktuellen Entwicklung in der Bestattungskultur und mit den gesellschaftlichen kursierenden Wünschen nach Autonomie in der Trauer nicht im Einklang stehen.
von Willibald Dreistad
Bericht zur Tagung
RITUALE DER TRANSFORMATION
Universität Passau, 5./6. Juli 2021
Am 5. und 6. Juli 2019 haben wir an der Universität Passau eine sozialwissenschaftliche Fachtagung zum Thema »Rituale der Transformation« veranstaltet.
Vor dem Hintergrund umfangreicher empirischer Studien, die in den vergangenen Jahren von Passau aus zum Themenkomplex Sterben, Tod und Trauer betrieben wurden, verfolgte die Tagung mit ihren insgesamt 13 Vorträgen das Ziel, wissenschaftliche und praxisorientierte Perspektiven zusammenzubringen und aktuelle Entwicklungen zu diskutieren.
Mit einem Vortrag über die performative Verwaltung von Umbrüchen in der Sozialstruktur eröffnete Thorsten Benkel (Passau) die Veranstaltung. Anhand von Beispielen aus der Forschung zeigte er auf, wie mittels spezifischer Rituale das chaotische und zerstörerische Ereignis des Todes verhandelt und bewältigt werden kann. Im Anschluss fokussierte Matthias Meitzler (Passau) mit der Temperatur eine Transformationsvariable des Todes, deren (thanato-)soziologische Bedeutsamkeit sich weit über die existenzielle Frage erstreckt, wie kalt ein toter und wie warm ein lebender Körper eigentlich sein muss.
Michaela Thönnes (Zürich) beleuchtete die strukturellen Bedingungen der Hospizarbeit im Verhältnis von Individualisierung und Institutionalisierung. Auch Niklas Barth, Katharina Mayr und Alexander Walker (München) machten die Erkenntnisse aus ihrer empirischen Forschung im Hospiz- und Palliativkontext zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen. Im Spannungsfeld von individuellen und kollektiven Übergangsriten sowie starren Organisationsroutinen steht insbesondere das Narrativ vom ›guten Sterben‹ auf dem Prüfstand. Ursula Engelfried-Rave (Koblenz) stellte aktuelle Zwischenergebnisse und Aussichten aus ihrem Projekt zum Thema Trauerbegleitung am Arbeitsplatz vor. Dem Dilemma zwischen effizienter Arbeit und Mitarbeiterfürsorge stehen viele immer noch hilflos gegenüber, wobei eine nicht wahrgenommene Trauer gravierende Folgen für die Arbeitsmoral haben kann. Nico Wettmann (Gießen) nahm die Transformationsarbeit von Hebammen bei pränatalen Verlusten in den Blick. Die Schwierigkeit liegt hierbei insbesondere im Umgang mit der Krise, die die soziale Konstruktion der Elternschaft durch den »Exitus um Uterus« erleidet. In einer Fallanalyse zur Diamantpressung aus Totenasche widmete sich Thomas Klie (Rostock) der Bedeutsamkeit von Artefakten in der zeitgenössischen Sepulkralkultur.
Den zweiten Veranstaltungstag leitete Leonie Schmickler (Passau) mit einer soziologischen Auseinandersetzung mit den Grenzen der Selbstbestimmung in der Sterbehilfe ein. Nach einer Darstellung und Einordnung der vielfältigen Fallgruppen der aktiven und passiven Sterbehilfe wurde die Komplexität einer juristischen, allgemeinen Regelung eines zutiefst intimen Lebensbereichs exemplarisch aufgezeigt. Frank Thieme und Susanne Stachowitz (Bochum) thematisierten Abschiedsrituale als Widerspiegelung des sozialen Wandels, der u.a. als Pluralisierung und Säkularisierung seinen Ausdruck findet. Der Friedhof als Ort der Sozialraumanalyse, an dem sich strukturell und situativ divergierende Charakteristika ausmachen lassen, stand im Fokus des Vortrags von Constanze Petrow (Geisenheim). Den privaten Raum am Grab stellte sie dem öffentlichen Raum um das Grab herum gegenüber und beleuchtete unterschiedliche Handlungsbefugnisse und Aneignungsstrategien. Dorothea Mladenova (Leipzig) stellte ihr Dissertationsprojekt zum Wandel der Bestattungskultur in Japan vor. Im Zuge der historischen Entwicklung lassen sich verschiedene Stadien mit spezifischen Merkmalen hervorheben, derweil aktuell ein Trend zu einer individualisierten und zu Lebzeiten selbst organisierten Bestattung auszumachen ist. Im Zentrum des Vortrags von Ekkehard Knopke (Weimar) standen ethnografische Erkundungen auf Bestattungsmessen. Eine »Eventisierung« sei hierbei insofern zu konstatieren, als die Messen als Agenda-Setter für das Thema Tod und Sterben fungieren und ein attraktives Image für das Sujet und die Beteiligten zu etablieren versuchen.
Mit einem visuellen Streifzug durch das thanatologische Unterholz rundeten Thorsten Benkel und Matthias Meitzler die Tagung ab. Anhand von kommentierten Bildmaterial gewährten sie dem Publikum nähere Einblicke in ihre empirischen Forschungsarbeiten und zeichneten die soziologische Relevanz von solchen Bereichen wie z.B. öffentliche Trauerplätze oder Pathologie-Abteilungen in Krankenhäusern nach. Neben dem produktiven und tragfähigen Diskurs zwischen Theorie, Methodologie und Praxis, der die Vielfalt und Breite der Thematik signalisierte, machte die Tagung auch die Notwendigkeit weiterer intensiver Vernetzung und Forschung deutlich, damit insbesondere die Fragen nach der Einordnung von digitalen Entwicklungen und der Einbeziehung der Materialität am Lebensende bearbeitet werden können.
von Christoph Nienhaus
Bericht zur Tagung
KÖRPER – WISSEN – TOD. Sozialwissenschaftliche Grenzgänge zwischen Lebenswelt und Transzendenz
Universität Passau, 25./26. Mai 2021
Am 25. und 26. Mai 2018 veranstalteten wir in Zusammenarbeit mit der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie an der Universität Passau eine sozialwissenschaftliche Fachtagung zu dem Thema »Körper – Wissen – Tod«.
Die zahlreich besuchte Veranstaltung adressierte sowohl VertreterInnen aus Wissenschaft und Praxis als auch interessierte BesucherInnen und Studierende. Ziel war es, wissenschaftliche Perspektiven auf gesellschaftliche Fragen zum Lebensende zu entwerfen. Die insgesamt 16 Vorträge wurden von regem Austausch und kontroversen Debatten begleitet.
Den Anfang machte Thorsten Benkel (Passau), der sich der Thematik unter wissenssoziologischen Vorzeichen annäherte. Mit besonderem Fokus auf Körperlichkeit sowie u.a. am Beispiel des vergessenen Klassikers Max Scheler versuchte Benkel zu zeigen, dass das, was Tod genannt wird, immerzu das Produkt einer spezifischen Wissensformation ist. Anschließend fokussierte Werner Schneider (Augsburg) Sterben als sozialen Prozess und entwarf eine dispositivanalytische Perspektive auf das Lebensende. Dabei beleuchtete er das »gute Sterben« als ein Projekt nicht nur für den Sterbenden selbst, sondern auch für die Angehörigen.
Den Tod als »Problem der Lebenden« thematisierte auch Matthias Meitzler (Passau) anhand des sozialen Wandels im Umgang mit Sterbenden und der Tabuisierung des Todes. Den Ausgangspunkt bildeten Norbert Elias‘ Betrachtungen über die »Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen«, die Meitzler vor dem Hintergrund eigener Forschungen auf ihre empirische Aktualität hin überprüfte. Zsofia Schnelbach (Passau) gab Einblicke in ihre Forschungen zur Symbolkraft des kindlichen Körpers bei stiller Geburt. Hierzu führte sie Interviews mit Eltern, deren Kind tot zur Welt gekommen ist und die somit einer Paradoxie von Begrüßung und Abschied ausgesetzt sind. Patrick Reitinger (Bamberg) führte die Thematik der Schwangerschaft in seinem Vortag zur Verräumlichung von Körperlichkeit weiter fort und zeichnete den Konflikt zwischen Materialität bzw. Körperlichkeit und einem juristischen Lebenskonstrukt nach. Anhand aufschlussreicher Studien zur Transmortalität veranschaulichte Hubert Knoblauch (Berlin) u.a, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Organspendeausweises eine Lücke klafft, die von institutionellen Stellen bislang allerdings unzureichend berücksichtigt wird.
Der zweite Veranstaltungstag wurde von Ulrike Wohler (Hannover) eröffnet. In ihrem Vortrag beschäftigte sie sich mit der gewandelten Sichtweise auf die Vergänglichkeit des Lebens. Während besonders im Mittelalter das Vanitas-Motiv öffentlich über alle Stände hinweg bewusst verhandelt wurde, sehen wir den Tod heute vermehrt als ein Tabuthema. Mit einem empirischen Ansatz beleuchtete Ursula Engelfried-Rave (Koblenz) die Bedeutung von Trauer-Tattoos. Die Haut fungiere dabei als ein Ort der Trauer, der Trauernde ständig begleite und eine Alternative zu herkömmlichen Trauerorten sein könne. Ekkehard Knopke (Weimar) demonstrierte anhand eines ethnografischen Projekts im professionellen Bestattungskontext, auf welchen Wegen Geschlechtlichkeit in diesem Setting kommunikativ konstruiert wird. Auch Katharina Mayr und Niklas Barth (München) stellten die Kommunikation in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen zum bewussten Sterben in der multiprofessionellen Sterbebegleitung. Dem »Schlamassel des Sterbens«, wonach Sterbende die ihnen zugewiesene Rolle zurückweisen, wurde eine ideale Vorstellung vom »guten Sterben« entgegengesetzt, die kommunikativ verhandelt und insbesondere in der Adressierung der Sterbenden durch professionelle Akteure sichtbar werde.
Lea Sophia Lehner (Passau) nutzte in ihrem Vortrag die elementaren Begriffe Feld, Kapital und Habitus von Pierre Bourdieu, um auf die Ursachen für Selbsttötung in unserer Gesellschaft einzugehen. Der Vortrag von Miriam Sitter (Hildesheim) widmete sich der Bedeutung von himmlischen Sinnbildern im Kontext tröstlicher Kinderliteratur bei der Trauerbegleitung für Kinder. Isabelle Bosbach (Bochum) ordnete in ihren Ausführungen zur Kryonik, eine Konservierungsmethode durch Einfrierung, den Tod als Phase des Lebens ein und definierte ihn dadurch als Prozess, nicht als Zustand. In ihrem Vortrag zu Sterbekonstruktionen im Vermittlungskontext legte Melanie Pierburg (Hildesheim) dar, wie der sinnbildliche »Akt des Loslassens« als Metapher für das Sterben im Hospiz verhandelt und dadurch zu einem erfahrbaren Gegenstand gemacht wird.
Der Berliner Fotograf Patrik Budenz (Berlin) führte mit einer Bildauswahl in die Thematik der Rechtsmedizin und Leichenauffindungssituationen ein. Entlang der Grenzen von Nähe und Distanz lieferte er den ZuschauerInnen ein »ästhetisches Angebot« und lud im Zwiegespräch mit Thorsten Benkel dazu ein, sich des Komplexes Fotografie und Tod im Lichte je eigener Bilddeutungen zu öffnen. Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von Ronald Hitzler (Dortmund), welcher sich mit einer Analyse der Empfindung, Erläuterung, Reflexion, Kundgabe und Deutung von Trauer beschäftigte und dabei aufzeigte, wie sich Trauergefühle im Kontrast zwischen subjektiven und kollektiven Empfindungen äußern.
Die Vielfalt der Zugänge, Methoden und Erkenntnisse, die im Rahmen der Tagung vorgestellt und lebhaft diskutiert wurden, hat zweifellos deutlich gemacht, dass die Forschung zum Lebensende mehr denn ein fruchtbares Sujet ist, das zahlreiche Chancen zur inner- und interdisziplinären Vernetzung bereithält und künftig über seine randständige Position innerhalb des sozialwissenschaftlichen Diskurses hinaus an Bedeutung zu gewinnen verspricht.
von Christoph Nienhaus und Ida Meyenberg